HOTEL GELEM

Embedded Tourism – Partizipieren an prekären Lebensverhältnissen

Während die Mehrheit im Urlaub nach Exotik und Abenteuer sucht, ist für Menschen unter prekären Lebensverhältnissen der permanente Zwang zu Mobilität und Improvisation bittere Realität. HOTEL GELEM lädt ein zur Partizipation an spezifischen Lebenssituationen und fordert auf zu neuen Formen des Austauschs, der Darstellung und Betrachtung jenes Phänomens, das nach dem Zweiten Weltkrieg “nie wieder” vorkommen sollte. HOTEL GELEM führt an Orte, an denen romantische Verklärung und rassistische Verfolgung zusammenfallen – und überwindet jene neuen Mauern mitten in Europa, die unsere Gesellschaft dramatisch spalten.

In Analogie zum Embedded Journalism, der Reporter in militärische Kampftruppen einbindet, richtet sich HOTEL GELEM an Menschen, die offen sind für persönliche Erfahrungen und Einblicke gewinnen wollen in soziale und kulturelle Zusammenhänge. Als Embedded Tourists werden sie durch eine persönliche Einladung Teil einer Besuchssituation in einem Rroma Dorf im Kosovo, in Osteuropa, oder auch in Rom, Paris, Berlin. Die BesucherInnen wohnen, essen, arbeiten und leben einige Tage mit den Ortsansässigen.

2010 richteten wir anlässlich der Young Artist Biennale in Bucharest Internet Cafés für Menschen ein, die durch soziale Ausgrenzung und strukturelle Gewalt von einer öffentlichen Wahrnehmung und Selbstrechtfertigung ausgeschlossen sind. Bei unserer Arbeit mit den Ausgeschlossenen Rumäniens begegneten wir überall Rroma. Auch ein ganzes Rroma Dorf erhielt von uns Zugang zum Internet und die Dorfbewohner konnten sich erstmals online an politisch brisanten Diskussion um Rassismus und Ausgrenzung beteiligen. Unser Kontakt zu den Rroma, der Einblick in ihre Lebensverhältnisse und die engagierte Zusammenarbeit bildet die Basis für unser Projekt HOTEL GELEM.

Rroma ist der Sammelbegriff für verschiedene Gruppen und Kulturen, die seit 600 Jahren in allen Europäischen Ländern als Minderheiten leben. 70 000 Sinti und Rroma sind fester Bestandteil der Deutschen Bevölkerung. Nur ein kleiner Prozentsatz der Rroma sind Fahrende. Migrationsbewegungen der Rroma sind jedoch vielfach auf die von Diskriminierung geprägten, prekären Lebensverhältnisse zurückzuführen. Auch eine Financial Crisis trifft die Ärmsten abermals am heftigsten.

Während Europa prosperiert, die Grenzen fallen und die Mobilität und Globalisierung zunimmt, gelten die Rroma als die größten Verlierer. Nach der Öffnung erlebte Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien eine neue Welle des Nationalismus. Rassismus und rechtsradikale Gewalt greifen um sich und treffen die ohnehin wehrloseste Gruppe: stigmatisierte und in Armut lebende Rroma. Viele Rroma sind von den Mehrheitsgesellschaften abgeschnitten. Ausgrenzungen finden an den Arbeitsstellen und bei der Wohnungssuche statt. Rromakinder werden vielfach nicht in die regulären Schulen aufgenommen.

In Rumänien waren die Rroma bis 1855 versklavt. Nach dem Zweiten Weltkrieg und schrecklichen Verfolgungen durch das Nationalsozialische Regime wurden Rroma in Frankreich und Deutschland nicht entschädigt, im Gegenteil: eine Kriminalisierung wurde bis in die 1980er Jahre fortgesetzt.

Berlusconi begann 2008 mit der Hetzjagd auf Rroma. 2009 im Görlitzer Park in Berlin aufgegriffene Rroma wurden, nachdem sich die Öffentlichkeit abgewandt hatte, nach Rumänien ausgeschafft. Rroma, die ab 1991 vor dem Krieg und der ethnischen Verfolgung in Jugoslawien nach Deutschland fliehen konnten, leiden heute unter der Ausweisung in elende Slums im Kosovo. Junge Menschen leben nach einer Kindheit und Ausbildung in Deutschland gar im berüchtigten Camp Osterode in Mitrovica. Im Juli 2010 erregte Nicolas Sarkozy mit der massenhaften Abschiebung von Rroma aus Frankreich Aufmerksamkeit. Diese Maßnahmen wurden von Institutionen der Europäischen Union scharf kritisiert, besonders natürlich, weil es sich um eine gezielte, staatlich organisierte Verfolgung und Vertreibung einer ethnischen Minderheit handelt.

Allgegenwärtige Phänomene der Armut und Chancenlosigkeit werden für die Rroma zur Charaktereigenschaft erhoben. Die Stigmatisierung verschärft die sozialen, ökonomischen und bildungsmäßigen Probleme. Antiziganismus stellt eine besondere Form des Rassismus dar und ist für Europa eine der größten Herausforderungen.

Intervention und neue Einsichten

Gelem, Gelem ist die Hymne der Rroma. Gelem heisst “ich ging (auf meinem sehr langen Weg)” und handelt von der Vertreibung und Ermordung der Rroma in Kroatien während des 2. Weltkriegs. Das melancholische Lied hat für viele Rroma eine traurige Aktualität.

Tourismus setzt auf Spektakel und Konsum des Exotischen. Spartanische und prekäre Lebensbedingungen werden von Touristen als archaisch-pittoreske Romantik wahrgenommen und zunehmend in Architektur- und Ästhetikdebatten als Inspirationsquelle herangezogen. Rroma Dörfer bieten diese Motive. Menschen leben in baufälligen Hütten, Baracken oder alten Wohnwagen, einige Siedlungen sind in Höhlen oder unter freiem Himmel. Oft sind keine sanitäre Anlagen vorhanden. Der Blick von Aussen aber entrückt den Existenzkampf zur Beschaulichkeit. Das Projekt ist weder Dramatisierung, noch Provokation oder Dokumentation, sondern eine vielschichtige, brisante Intervention, die auf alle Seiten Auswirkungen zeigt – wohlwissend, dass die Beobachtung auch das Objekt der Betrachtung verändern kann. Gastfreundschaft und Offenheit bringen die Rroma-Gemeinschaften den Besuchern entgegen. Die werden indes selbst auf die Probe gestellt. Wer bin ich, wenn ich mich in prekären Verhältnissen wiederfinde? Ein Zusammensein öffnet neue Chancen und den Austausch, und die Anwesenheit der BesucherInnen kann ein Stück weit vor Übergriffen schützen.

Die Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse aller Beteiligten sind Teil der Intervention. Mit dem Projekt erleben wir, dass es von fundamentaler Bedeutung ist, über die eigenen, identitäts- und ordnungskonstitutiven Ansichten nachzudenken. HOTEL GELEM vermag eine Intervention zu initiieren, die Menschen zugleich einbindet und herausfordert und so die scheinbar gegebenen, soziokulturellen und politischen Spaltungen überwindet. HOTEL GELEM soll kein kurzfristiges Kunstspektakel sein, sondern auch nachhaltig Begegnungen über ethnische, soziale, gesellschaftliche, kulturelle und nationale Grenzen und Gräben hinweg erlauben und Perspektiven einer neuen Selbst- und Weltsicht öffnen.