Mitrovica, Kosovo

Im Krieg zwischen den Fronten

Wir verbringen ein paar Tage im Camp Osterode, just in dem Moment, als der Krieg wieder eine tatsächliche Bedrohung wird. Am Vortag unserer Ankunft wurden die Brücken in der Stadt mit Erdhügeln blockiert, der serbische Norden Mitrovicas ist vom albanischen Süden weitgehend abgeschnitten. Während unseres Aufenthalts ereignen sich verschiedene Attentate, auch im Camp ist eines Nachts eine laute Detonation zu hören: eine Autobombe war in unmittelbarer Nähe gezündet worden. Das Flüchtlingslager Osterode liegt im Norden der Stadt. Von hier müssen die Rroma immer wieder die Frontlinien durchqueren weil andere Familien, Schwestern oder Cousins im südwestlichen Mahala ihre Bleibe haben. Einmal mehr sind die Rroma ein Spielball der Geschichte. Übergriffe auf die Bevölkerungsminderheiten sind im Kosovo leider immer noch eine große Gefahr, wie etwa die Vorkommnisse 2004 in Vu?itrn zeigten. Kategorisch werden sie drangsaliert und stigmatisiert, von beiden Kriegsparteien verdächtigt, gegängelt, verprügelt und gejagt.

Die Roma-Mahala, das traditionelle Rromaviertel in Mitrovica war vor dem Krieg von 8000 Menschen dicht besiedelt. 1999 wurden die Häuser geplündert und zerstört. Viele Rroma aus der Mahala flohen ins Ausland, einige nach Deutschland. Die in Mitrovica verbliebenen wurden in provisorische Flüchtling-Camps im Norden der Stadt gebracht, in ein Gebiet, das von einer ehemaligen Bleimiene stark kontaminiert ist und als kurzfristige Übergangslösung gedacht war.

Vergessen im vergifteten Flüchtlingslager

Das größte Flüchtlingslager ist Osterode. Das Areal diente erst als französische Nato-Kaserne. Die Soldaten haben das Gelände verlassen, weil das Gebiet bleiverseucht ist. Dann wurden die Familien mit ihren Kindern hierher gebracht. Die Menschen saßen jahrelang hier fest, eine Katastrophe bahnte sich an. Seit 2000 registrierte die Weltgesundheitsorganisation WHO dramatische Vergiftungen. 2004 starb das erste Kind, bis 2008 zählte ein zuständiger Arzt 77 Todesopfer, 2009 wurde die Zahl 80 genannt, richtig zählen wollte niemand. Unter den Opfern sind viele Kinder. Die Rroma sind seit Jahren dem tödlichen Gift in Boden, Wasser und Luft ausgesetzt, besonders dramatisch sind die Folgen für Kinder und Ungeborene.

Schon lange hätten die Menschen neue Häuser in der Mahala erhalten sollen. 2007 waren die ersten Häuser endlich fertig. Doch im Flüchtlings-Camp in Nord-Mitrovica leben im Herbst 2011 immer noch fünfzehn Familien. Hinter dem Areal ragt wie eine Mauer der Aushub der ehemaligen Miene hoch über das Tal, karg, unbewachsen und hochtoxisch.

Das Gelände ist umzäunt und bewacht. Das dient einerseits der Sicherheit der Bewohner, doch zugleich verstärkt sich ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Ein Wachmann patroulliert auf dem Gelände. Plötzlich beschimpft er die Menschen im Camp lauthals, weil wieder ein Kanaldeckel verschwunden sei – vermutlich an einen Eisenhändler verkauft für wenige Cents. Die Situation ist für alle sehr bedrückend. Die Vertriebenen mussten sich den UN Hilfswerken anvertrauen, doch ausgerechnet in deren Obhut – erst innerhalb dieser Flüchtlingslager – sind viele erkrankt und verstorben. Hier, in kriegsähnlichen Verhältnissen, der Kontamination durch die Bleimiene ausgesetzt, vermittelt sich eine strukturelle Gewalt, die für viele Rroma in ganz Europa erschreckend trauriger Alltag bedeutet.

(K)ein Leben

Gjemi (sprich: Jimmy) ist unser Gastgeber in Mitrovica. Er führt uns durch die Malhala und quartiert uns im Camp Osterode ein. Gjemi ist jung, gewandt, agil, voller Hoffnung und Pläne. Er spricht Deutsch, Romanes, Englisch, Albanisch, Serbisch und etwas Französisch. Eigene Lieder schreibt er und postet seine Videos auf Youtube. Manchmal tritt er bei Feiern oder Hochzeiten auf, singt Liebeslieder und dachte schon daran, bei Deutschland sucht den Superstar aufzutreten oder dem albanischen Pendant, obwohl ihm noch das professionelle Equippment und der grosse Durchbruch fehlt.

Trotz der Leidenschaft für Pop, die er mit vielen Gleichaltrigen teilt, ist Gjemis Leben anders. Bis 2005 lebte er mit seinen Eltern und sechs Geschwistern Deutschland. Dann wurden sie eines Morgens aus dem Schlaf gerissen, durften nur gerade das Notdürftigste einpacken und wurden abgeschoben. Gjemi hatte damals gerade seinen Hauptschulabschluss gemacht und sollte eine Lehrstelle als Autolackierer antreten. Wie seine Geschwister war er mitten in der Ausbildung, als er herausgerissen wurde aus seinem sozialen Umfeld. Versprochen wurde der Familie ein Haus, Sozialleistungen und medizinische Hilfe für die kranken Eltern, Bildung und Integration der Kinder. Statt in einer funktionierenden Gesellschaft landeten sie in dem berüchtigten Flüchtlingslager mit hochtoxischer Kontamination. Noch heute lebt Gjemi da. Seit einem Jahr ist wer verheiratet, jetzt lebt er mit seiner Frau und einer viermonatigen Tochter in einem dieser großen Kasernenräume. Er schaukelt seine kleine Tochter, die eng eingeschlungen in einer Holzwiege liegt. Es ist wohnlich hier, Wandfarbe, Teppiche, Vorhänge machen die Räume behaglich. Wir trinken türkischen Kaffe, knabbern die Kekse, die wir mitbrachten. Das schleichende Gift ist unsichtbar. Eine andere Sorge drückt noch viel schwerer.

Nicht nur der Krieg, die Provokationen und Belagerungszustände bedrohen das Leben der Rroma unmittelbar, die Arbeits- und Lebensbedingungen sind generell sehr gravierend. Bei einer Arbeitslosenquote bis 64% im Kosovo trifft es die stigmatisierte Gruppe der Rroma überdurchschnittlich hart. Selbst die kleinen, neuen Häuser in der Mahala können nicht über das soziale Elend und die fehlenden Perspektiven hinwegtäuschen. Kaum jemand hat einen bezahlten Job, die Arbeitslosigkeit bei den Rroma liegt bei nahezu hundert Prozent. So suchen sich die Rroma als Tagelöhner durchzuschlagen, sonst bleibt einzig das Sammeln von Müll. Willkürliche Arbeitgeber, ein zwölfstündiger Arbeitstag an sechs Tagen pro Woche für fünf Euro am Tag ist hier die Regel, ohne soziale Absicherungen wie Alters- oder Krankenversicherungen. Ein Selbstwertgefühl und ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft weicht einer lähmenden Trostlosigkeit. In den ersten Monaten waren in den Flüchtlingslagern Nahrungsmittel ausgegeben worden. Zeitweise wurde auch darauf geachtet, spezielle Nahrung (reich an Spurenelementen) gegen die Bleivergiftung zu liefern. Doch diese direkte Hilfe endete vor Jahren schon, schlimmer noch, selbst die medizinische Versorgung der Menschen ist nur lückenhaft. Die Krankenstation in Osterode ist schon seit Jahren geschlossen.

Flüge ab Berlin, Frankfurt, Stuttgart, Basel, Genf führen täglich nach Pristina. Nach einer einstündigen Busfahrt ist man in Mitrovica Zentrum bei der Moschee. Gjemi wird sie hier abholen, wenn er sie einlädt.

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