Berlin, Görlitzer Park

Schokolade

Eine Frau sitzt in einem Matratzenlager unter dem Vordach mitten im Görlitzer Park in Berlin. Jedesmal wenn Spaziergänger die Situation fotografieren, springt sie auf und vertreibt die Eindringlinge. Zwei Kinder brausen auf kleinen Fahrrädern umher. Die Frau überwacht sie. Ich setze mich zu ihr, stelle ich mich vor. Sie mustert mich und lächelt. Leider versteht sie nur sehr wenig deutsch und ich kann kein Rumänisch. Zwei Tafeln Schokolade habe ich mitgebracht. Die Frau lacht, ruft: “Cioccolata, Cioccolata!” zu den Kindern.

“Danke für die Schokolade!” rufen mir die Kinder am nächsten Tag entgegen, als ich mich dem Lager nähere. Ich frage die Leute, was sie bräuchten, ob ich etwas tun könne. Roxana möchte ein Hähnchen. Mit zwei Frauen und zwei Kindern mache ich mich auf den Weg. In gebrochenem Französisch erläutert sie ihre Situation. Die hätten sie aus der Wohnung geworfen. Ich kenne die Geschichte. Die Familien wurden vor einigen Tagen von einem dubiosen “Hilfswerk” aus einer überteuerten, baufälligen Wohnung auf die Straße gesetzt. Seither sind sie im Park mitten in Berlin und niemand will sich ihrer annehmen. Die Bezirke schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu, die Presse macht hetzerische Stimmung, schließlich stehen in Berlin die Bürgermeisterwahlen an.

Pommes und Pampers

Während wir zum Hähnchenstand gehen, stupft mich das kleine Mädchen mehrfach an, macht ein herzzerreissendes Gesicht und deutet mit dem Finger in den Mund, was wohl Hunger meint. Die Kinder werden von der Mutter angewiesen, dies zu unterlassen. Vor der kleinen Bude wartet eine lange Menschenschlange. Wir stellen uns hinten an. Da wir französisch sprechen beteiligen sich die umstehenden Touristen am Gespräch und wollen wissen, wie man “ein halbes Hähnchen” auf deutsch bestelle und was “Pommes” meine. 1l Cola, 1 Hähnchen und Pommes zum mitnehmen. 8.25 EUR. bezahle ich und wir gehen zurück.

Maria erklärt, sie habe zwei kleine Kinder und kein Geld um Milch und Pampers zu kaufen. Das Geld für die Besorgungen hätte ich. Ob ich dafür eine Weile bei ihnen wohnen könne? Klar könne ich hier bleiben! Alle beteuern, ich könne bei ihnen auf den Matratzen schlafen. Das Geld und die Besorgungen sind vergessen. Dass ich mit ihnen leben möchte, ist jetzt jedoch sehr interessant und zugleich unverständlich.

Wir sind die Anderen

Ich bin nun Teil der Gruppe, die von den anderen beäugt wird. “Nimmt mich wunder, was die im Winter machen” oder: “Ist bestimmt nicht lustig, wenn es regnet.” murmeln die Vorbeigehenden.
Einige der 15 Rroma, die hier wohnen, sprechen Französisch, andere Spanisch, die Älteren unterhalten sich in Rumänisch und Romanes. Eine Mischung aus herzlicher Gastfreundschaft, Interesse am Fremden und eine ernsthafte Suche nach Überlebensstrategien und einer Zukunftsperspektive wechseln sich ab.

“Hast du eine Frau? Willst du nicht heiraten?” Grosses Unverständnis ruft hervor, dass ich verneine. “Sie hat noch keinen Mann”, meinen einige und zeigen auf Roxana. Sie kommt aus der Nähe von Bukarest. Dass ich auch schon in Bukarest war und Freunde da habe, hatte sich längst herumgesprochen. Roxana möchte nach Bukarest, um einen kranken Verwandten im Spital zu besuchen. “Wann fährst du nach Rumänien? Ihr könntet ja zusammen fahren.” - Wir tauschen die Telefonnummern.

Auf der Wiese vor der Treppe wird ein Grill aufgestellt. Eine Pet-Flasche wird angezündet und auf die Kohlen gelegt. Der beissende Rauch lässt mich zweifeln, doch die Köchin scheint nicht beunruhigt. Der Grill sei für die Maccarons. Irgendwann hat sich an Stelle der Flasche tatsächlich Glut gebildet und ein Topf mit Nudeln in einer weissen Flüssigkeit wird aufgesetzt.

“Komm setz dich zu mir. Es ist sauber, guck!” ruft Alex. Er spricht Deutsch. “Wir sind Zigeuner, so sagen sie uns hier. Seit einem Jahr gehe ich im Wedding zur Schule, in die Kleinklasse. Der Lehrer spricht nur Deutsch, in unserer Klasse sind jedoch Rumänen, Bulgaren, Araber und ein Pole – kein einziger Deutscher. Manchmal, wenn es dunkel wird, attackieren uns die Araber hier im Park und werfen mit Flaschen auf uns.”

Ich kriege einen Teller. Nudeln in einer gesüssten Milch-Wasser-Mischung. Schmeckt lecker und erinnert an den Milchreis über den ich als Kind Berge von Zucker schüttete. Auf der Glut werden jetzt Fleischstücke grilliert. Es duftet lecker.

Nach dem Essen gehen wir durch den Park. Ein Mann radelt auf uns zu. “Bestimmt ein Dealer” raunt Alex. Die Begegnung ist unfreundlich und endet damit, dass wir bedroht und beschimpft werden. Zurück bei den anderen will ein kleiner Junge mit meinem Handy spielen. Er gestikuliert, deutet ein Autorennen an. Ich habe kein solches Spiel auf dem Handy, für Schach ist er viel zu jung. Schließlich finde ich ein “Vier-Gewinnt”, er beginnt sofort damit und wird nicht müde, die Spalten mit roten und gelben Steinen zu füllen.

Hoffnungsschimmer

Röllö, der Mann von Maria ist 21. “Wieviel verdienst du?” - “Das ist ganz unterschiedlich. Manchmal verdiene ich etwas, manchmal nicht. Ich mache Kunst-Projekte, Ausstellungen.” - “Was für Projekte? In Museen? Mit Bildern vor 300 Jahren?” - “Mehr mit neuen Medien, partizipative Projekte mit dem Internet.” - “Ah, Internet! Verstehst du das Internet? Komm wir fahren zusammen nach Rumänien. Ich habe dort einen Freund, der ist ganz gut im Internet. Wir machen ein paar Sachen, wir drei zusammen und verdienen viel Geld. Zu dritt würden wir viel Geld verdienen...” Dann erlischt seine Euphorie. “Hast du die zwei kleinen Kinder gesehen? Das sind meine. Ich habe ihnen nichts zu bieten. Das ist doch kein Leben so. Ich habe nichts.”
Gegen zwölf gehe ich schlafen. Meine Matte liegt zwischen den Kinderwagen und dem Matratzenlager. Sofort kriege ich noch ein Kopfkissen untergeschoben. Manchmal vernehme ich Stimmen, Diskussionen. Kleingeld klimpert. Jemand zählt.

Mitternacht. Eine Geburtstagsrunde irgendwo im Park zählt die Sekunden bis zum Glockenschlag. Applaus, sie singen Happy Birthday. Alex hatte mir erzählt, dass er vor einer Woche 14 Jahre alt wurde. Er hatte keine Geburtstagsparty. In Deutschland habe er keine Freunde.

Um halb eins kommen zwei weitere Männer, legen sich hin. Einer spielt Musik von seinem Handy und singt einen melancholischen Schlager. Immer und immer wieder, bis jemand schimpft. Ich schlafe ein.

Im Morgenrot klingelt ein Handywecker, murren. Der Wecker wird ausgemacht, klingelt wieder, murren, nochmals von vorn. Heute ist Montag, Schulanfang in Berlin. Der Bruder von Alex steht auf, zieht frische Jeans und ein weisses T-Shirt mit silbernem Aufdruck an, frisiert seine Haare und hängt sich ein schwarzes Rucksäckchen um. Ein ganz normaler Teenager. Er verabschiedet sich.
Auf dem Grill wird mit Ästen aus dem Park Feuer gemacht und Kaffe gekocht. Eine Tasse wird mir ans Bett gebracht. Alexs kleine Schwester kämmt sich lange die Haare. Sie hat einen hellblauen Schulranzen. Die Mutter bringt sie zur U-Bahn. Ein ganz normaler Schultag.

Nachts, kurz vor dem Einschlafen hatte ich eine Sternschnuppe gesehen durch ein Wolkenloch. Sie muss hell gewesen sein, sonst hätte ich sie kaum wahrgenommen mitten in der beleuchteten Stadt. Ich habe mir etwas gewünscht. Manchmal dringt ein Hoffnungsschimmer bis hierhin durch.

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